Der folgende Essay entstand auf Einladung von Esther Holland-Merten als Originalbeitrag im Programmheft »zehn« von WUK performing arts anlässlich der ersten Spielserie von über.morgen WIEN. Er skizziert Aspekte eines unserer zentralen künstlerischen Verfahren und lässt ein wenig tiefer in die Entwicklung dieses utopischen Audiowalks blicken.
Claudia Seigmann, Markus Zett
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01 | Schon lange schreiben wir theaternyx* als Wortmarke mit einem Sternchen am Ende. Der Stern verweist auf die Herkunft des Namens: Nyx, die griechische Göttin der Nacht – Mutter von Traum, Schlaf und Tod – fährt dem Mythos nach abends mit ihrem Wagen über den Himmel, um die Sterne auszustreuen. Der Asterisk ist eine kleine Reminiszenz daran.
Zudem ist er das antike Zeichen für Auslassungen: das Sternchen, berichtet die deutsche Autorin Judith Schalansky, übernahm erst im Mittelalter die Aufgabe, eine Textstelle mit der dazugehörigen Randbemerkung zu verbinden. Isidor von Sevilla schreibt in seiner im 7. Jahrhundert erschienen Etymologiae: Ein Sternchen – als typografisches Zeichen für Textlücken – wird dort eingefügt, wo etwas ausgelassen ist, so dass durch dieses Zeichen hell erstrahlt, was abwesend ist. (Wir danken Claudia Tondl für diesen Hinweis.)
02 | Eines der Werkzeuge, unsere Arbeiten zu entwickeln, sind Fragen. Dabei zeigt sich, dass uns jene Fragen am weitesten vorwärts bewegen, die anfangs am wenigsten zu beantworten sind. Folgt auf die Frage nicht sofort eine Antwort, so entsteht nach ihrem Aussprechen eine Lücke, in die, wenn wir die Frage dennoch ernst nehmen und ihr denkend folgen, etwas Neues angesaugt wird.
03 | Eine maximal unbeantwortbare Frage ist die nach der Zukunft. Die Zukunft ist die große Abwesende. Was wird sein? Wie wird es sein? Auch wenn sehr viele Menschen gerade wieder darum ringen, eine Zukunft für sich zu entwerfen und auch wenn Zukunftsforscher*innen Trends zu beschreiben versuchen: immer kann es auch ganz anders kommen. Diese Leerstelle ist so immens, dass sie zum Spielen einlädt. In Form von Science Fiction arbeitet sich ein ganzes erzählendes Genre an ihr ab. Das Theater allerdings weiß – vielleicht weil es ein Präsenzmedium ist – oft wenig zur Zukunft zu sagen.
Und wenn doch Zukunft, dann wird es bestimmt immer schlimmer. Mit unserem Versuch, im Gegensatz zu diesem Reflex positive Zukünfte zu entwerfen, bleiben wir im Sinn der amerikanischen Essayistin Rebecca Solnit nicht naiv optimistisch, sondern realistisch hoffnungsvoll: Wir leben in einer von Menschen gemachten Welt, also beharren wir darauf, dass Menschen diese Welt auch wieder anders machen können.
Wird die Sehnsucht nach der gelingenden Zukunft groß genug, bringt sie eine neue Leerstelle in Form einer Frage hervor: Wie kommen wir dort hin?
04 | Beim ortspezifischen Arbeiten lässt der Text der Performance Leerstellen, um den Orten, der Stadt, dem öffentlichen Raum Platz zu geben. Der Text vieler unserer Arbeiten ist nicht vollständig ohne den Orten an oder den Räumen in denen er performt wird. Das grundlegende Medium unseres kollektiven Audiowalks über.morgen ist die Strecke, auf der wir (mit euch) unterwegs sind. Wir treten in der Arbeit daran mit ihr in einen Dialog und machen sie zur Ko-Autorin: die Strecke spricht und wir antworten darauf; wir stellen eine Behauptung auf und die Strecke löst sie für uns ein.
05 | Anstatt eine „totale Zukunft“ zu entwerfen, montieren wir an dieser Strecke Fragmente möglicher konkreter Utopien. Wir lassen Lücken, wir beantworten viele Fragen nicht, wir laden zu einem Dialog ein. Wir wissen es auch nicht besser – und sehen das statische Bild einer Utopie lieber ersetzt durch ein fortgesetztes dynamisches, spielerisches und gemeinsames Entwerfen von Bildern für gesellschaftlichen und ökologischen Fortschritt. Vielleicht fehlt uns, um das auszudrücken, noch das richtige Wort; vielleicht braucht es dafür ein Verb. Das wäre dann utopieren: ich utopiere, du utopierst… wir utopieren.
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Zuerst erschienen in: zehn. Programmheft September – November 2020. WUK performing arts